Die seelischen Abwegigkeiten beim Jugendlichen, 1958, Dr. Walter Spiel


(Auszug)

Auf dieser Tagung wurde bereits ein vielfaelltiges Spektrum an Jugendproblemen besprochen und es sind bereits verschiedene Auffassungen ueber diese Probleme zur Sprache gekommen. Meine Aufgabe als Jugendpsychiater ist es, Sie auf die Jugendlichen aufmerksam zu machen, die wir dem Oberbegriff "Abnorme und Kranke" unterordnen.
Wenn hier schon am ersten Tag festgestellt wurde, dass die weitaus groesste Zahl unserer Jugendlichen uns zu keinerlei Besorgnis Anlass gibt, tuechtig und fleissig arbeitet und zu den groessten Hoffnungen berechtigt, so moechte ich dem vollinhaltlich zustimmen. Oefters schon wurde hier und auch anderorts darauf hingewiesen, dass nichts unrichtiger waere als ein Pauschalurteil abzugeben.
Wenn aber mit unserer Jugend alles in Ordnung waere, warum haetten wir uns dann hier zusammen gefunden? Warum beschaeftigen wir uns hier und andernorts mit diesen Problem?
Ich meine, deshalb, weil es eben eine kleine Anzahl von Jugendlich gibt, die uns als abnorm auffallen, die uns stoeren, die uns Sorge machen, Krawalle schlagen, kriminelle Handlungen begehen und die schliesslich die anderen mitreissen. Wollen wir uns doch einmal diese Jugendlichen, es sind nicht mehr als 10-20%, naeher ansehen.
Wenn es also ein Jugendproblem gibt, so liegt es, meine ich, nicht bei den normalen und gesunden Jugendlichen, sondern bei dieser ganz kleinen Gruppe. Daran aendert auch nichts die Auffassung der Soziologen, dass sich in unserer Gesellschaft ein Strukturwandel vollzogen hat, und dass dieser Strukturwandel seelische Auswirkungen hat. Trifft dieser Strukturwandel alle Menschen einer Gesellschaft, also alle Jugendlichen, und nicht nur einen kleinen Teil derselben. Schelsky hat an dieser Stelle ausfuehrlich die Normalpsychologie dieser Jugend beschrieben, dieser Jugend, die anders ist, weil sie in einer anderen Welt aufwaechst. Deswegen ist sie aber noch lange nicht abnorm!
Fragen wir uns: Was stoert uns, wenn wir unsere Jugendlichen heute kritisieren, was alamiert uns?
Dass sie skeptisch sind? Dass sie sachlicher denken? Dass sie materialistischer eingestellt sind und keine Ideale mehr anbeten?
Oder stoert uns, dass die Sexualdelikte ansteigen, dass randalierende Jugendliche Parks zerstoeren, dass sie sich raufen und schlagen,dass sie sich zusammenrotten und einbrechen! Das sind doch Alarmzeichen, die uns hier zu dieser Tagung zusammengefuehrt haben! Der Strukturwandel der Gesellschaft allein-allein!- ist fuer die lezteren Erscheinungen sicherlich nicht verantwortlich zu machen. Da muss wohl auch etwas in der Persoenlichkeit gelegen sein, dass gleichsam ansprechend, mitschwingend auf die Wandlungen, denen wir alle unterworfen sind, Symptome laut werden laesst ----- sehr laut werden laesst, wie wir es alltaeglich erleben.
Kurzum ich sehe meine Aufgabe als Arzt darin, Ihren Blick von den grossen Zusammenhaengen hinzuwenden auf das Individuum in der Hoffnung, dass bei der Erhellung dieser Tatsachen ebenfalls Feststellungen allgemein gueltiger Art gemacht werden koennen, die geeignet sind, uns bei der praktischen Arbeit zu helfen.
Ich spreche daher jetzt nur mehr von den "Abartigen", von den "Abnormen", von den "Kranken".
Ich beziehe meine Erfahrungen aus Stellen, bei denen die gestoerten und abnormen Jugendlichen und Kinder gleichsam wie durch ein Sieb abgefangen werden, naemlich durch den Schulpsychologischen Dienst, durch meine Abteilung an der Wiener Nervenklinik und durch eine langjaehrige Konsiliartaetigkeit in Kaiser Ebersdorf.